Ist pürierte Kost das Richtige?


Dysphagia Café hat am 10. Juni einen Blog-Text von Angela Van Sickle und Co-Autor Ed Bice veröffentlicht. Darin geht es um Dysphagie, Demenz und Ernährung. 

 

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Wenn man während der Essenszeit durch den Speisesaal einer Pflegeeinrichtung geht, sieht man häufig eine große Zahl von Bewohnern mit Demenz, die pürierte Lebensmittel essen und eingedickte Flüssigkeiten trinken. Dies kann die Folge von erkannten Schluckbeschwerden sein, da Dysphagie ein häufiges Problem dieser Gruppe ist. Zu den Schluckproblemen, über die bei Personen mit Demenz berichtet wurde, gehören verlängerte orale Transitzeiten für das Schlucken von festen Konsistenzen, eine Verzögerung der pharyngealen Phase bei Flüssigkeiten (Priefer & Robbins, 1997), eine verringerte Hyoidauslenkung und eine verringerte Kehlkopfhebung (Humbert et al., 2010). Personen mit Demenz zeigen auch Schwierigkeiten beim Kauen und bei der Bolusbildung. Auch Aspiration, einschließlich stiller Aspiration, sind üblich (Suh, Kim, & Na, 2009).

Groher und McKaig (1995) untersuchten die Ernährungsgewohnheiten von Bewohnern in zwei Fachpflegeeinrichtungen. Sie berichteten, dass 28% (212 von 740) der Einwohner eine modifizierte Diät erhielten. Etwa 53% (112 von diesen 212) der Bewohner hatten eine Demenzdiagnose. 58% (65 von 112) der Bewohner mit Demenz erhielten eine pürierte Diät, und weitere 18% (etwa 21 von 112) erhielten Sondennahrung. In jüngerer Zeit wurde in zwei weiteren Studien herausgefunden, dass 8% bis 67% der Personen in stationären Pflegeeinrichtungen modifizierte Diäten und/oder Flüssigkeiten erhalten, wobei in einer Studie 43% der Demenzkranken mit modifizierte Diäten ernährt wurden (Painter, Le Couteur, & Waite, 2017). Diese Daten zeigen auf, dass Ernährungsumstellungen bei der Behandlung von Patienten mit diagnostizierter Demenz eine gängige Praxis sind.


In den Vereinigten Staaten gibt es etwa 15.600 Pflegeheime (Center for Disease Control and Prevention, 2020), und mehr als die Hälfte der in Pflegeeinrichtungen lebenden Menschen leidet an Demenz (Hoffmann, Kaduszkiewicz, Glaeske, Bussche, & Koller, 2014). Der Gedanke an diese Zahlen ist erschütternd. Ungefähr 45 % der in Pflegeeinrichtungen lebenden Demenzkranken leiden ebenfalls an Dysphagie (Easterling & Robbins, 2008). 

Diese Zahlen sowie die Daten von Groher und McKaig (1995) deuten darauf hin, dass viele Bewohner in Fachpflegeeinrichtungen mit Demenz und Dysphagie eine modifizierte Ernährung erhalten, auch wenn es keine Evidenz dafür gibt, dass diese Intervention die Situation verbessert.

Evaluation und Re-evaluation

Der Zeitraum, in dem die Bewohner in der Studie von Groher und McKaig (1995) veränderte Diät erhalten hatten, betrug zwischen 2 Monaten und 12,6 Jahren mit einem Durchschnitt von 3,4 Jahren. Die Zeit seit einer Schluckuntersuchung betrug durchschnittlich 3,9 Jahre. Dies deutet darauf hin, dass viele Demenzpatienten auf eine veränderte Ernährung umgestellt und danach nie re-evaluiert wurden oder eine Gelegenheit zur Optimierung der Situation erhielten.

Da es keine etablierte Methode zur Verschreibung von Diätkonsistenzen gibt, gibt es eine große Variabilität in der Art und Weise, wie solche Entscheidungen getroffen werden. Ein wichtiges Ergebnis der Studie von Groher und McKaig (1995) war, dass 91% (192 von 212) der Teilnehmer in der Lage waren, eine Diät mit größerer Textur (also nicht püriert!) und/oder weniger eingedickte Flüssigkeiten ohne Gefährdung der Atemwege zu konsumieren und gleichzeitig einen positiven Ernährungs- und Hydratationsstatus beizubehalten. Wenn diese Informationen verallgemeinert werden, kann davon ausgegangen werden, dass die meisten Ernährungsempfehlungen zu restriktiv sind. Obwohl die Autoren keine spezifischen Informationen für die Personen mit Demenz zur Verfügung stellten, sank die Gesamtzahl der Bewohner, die eine pürierte Diät erhielten, nach der Auswertung von 50% auf 25%.

 

Die Beurteilung der Auswirkungen von Diätanpassungen oder Haltungsänderungen erfordert eine Bildgebung. Ohne bildgebende Verfahren ist der tatsächliche Effekt einer Intervention unbekannt. In einer Studie aspirierten 49% der Demenzkranken, die eine Aspiration mit dünnen Flüssigkeiten zeigten, auch unter Verwendung der Chin-Tuck-Strategie, bei nektar- und/oder honigartigen Flüssigkeiten (Logemann et al., 2008). In einer anderen Studie husteten ca. 11% (20 von 180) der Teilnehmer bei wasserartigen Flüssigkeiten und aspirierten dann still (!!!) mit angedickter Flüssigkeit (Miles, McFarlane, Scott, & Hunting, 2018). Diese Beispiele veranschaulichen die Bedeutung instrumenteller Schluckevaluierungen zur Beurteilung der Wirksamkeit von kompensatorischen und adaptierenden Massnahmen. Wenn der Patient während einer klinischen Schluckuntersuchung mit wasserartigen Flüssigkeiten hustete und bei eingedickter Flüssigkeit nicht hustet, könnte die Schlussfolgerung lauten, dass angedickte Flüssigkeiten hilfreich sind, um die Aspiration zu reduzieren. Miles et al. (2018) zeigen, dass dies möglicherweise nicht der Fall ist. Es gibt jedoch in der Praxis Hinweise darauf, dass Entscheidungen für Menschen mit Demenz regelmäßig allein auf der Grundlage klinischer Schluckuntersuchung ohne bildgebende Überprüfung getroffen werden.

Behandlungsstrategien für Menschen mit Dysphagie und Demenz

Ein Großteil der Literatur im Zusammenhang mit Interventionen bei Schluckstörungen bei Menschen mit Demenz konzentriert sich auf die Verbesserung der Schlucktriggerung, die Veränderung der Umgebung, die Schulung des Pflegepersonals und/oder die Anpassung der Diät (Brush & Calkins, 2008; Groher & Crary, 2016). Die gängigsten Interventionsstrategien für Menschen mit Demenz und Dysphagie sind wenig evidenzbasiert und umfassen Änderungen der Diät, Haltungsänderungen, Sondeneinlagen, Medikamente oder Unterstützung beim Essen (Abdelhamid et al., 2016; Alagiakrishnan et al., 2013).


Die Anwendung rehabilitativer Strategien bei Menschen mit Demenz ist in der Literatur nicht verbreitet. Ciro, Dao, Anderson, Robinson, Hamilton und Hershey (2014) zeigten durch motorische Übungen und aufgabenspezifisches Training Verbesserungen bei der Ausführung von Aufgaben des täglichen Lebens bei Personen mit leichter bis mittelschwerer Demenz. Ihre Studien bieten eine Möglichkeit für motorisches Lernen von Menschen mit Demenz. Malandraki, Johnson und Robbins (2016) zeigten eine Verbesserung einiger Werte der Schluckfunktion bei Erwachsenen mit neurologischen Erkrankungen durch die Anwendung von Prinzipien der neuralen Plastizität. Obwohl keiner der Teilnehmer eine Diagnose von Demenz hatte, kann allenfalls in Zukunft die Kombination von Prinzipien der neuronalen Plastizität mit rehabilitativen Strategien die Schluckfunktion bei Personen mit Demenz und Dysphagie verbessern. Bice und Galek (2016) zeigten Verbesserungen beim Schlucken bei einem Patienten mit Demenz nach einem Behandlungsprotokoll, das Prinzipien des motorischen Lernens und der neuronalen Plastizität kombinierte: häufige Wiederholung von Aufgaben, Verwendung von Aufgaben, die häufig und alltagsrelevant sind, und eine hohe Intensität der Behandlung. 

 

Die Wirksamkeit von Schluckstrategien ist fraglich. Die meisten kompensatorischen Strategien erfordern, dass der Patient sich an die Strategie erinnert und sie konsequent anwendet. Das in der Literatur übliche Ändern der Diät hingegen erfordert kein Gedächtnis. Die Diätkonsistenz kann ohne Evaluation der Schluckfunktion herabgestuft werden. Es mag als eine einfache oder schnelle Lösung und ansprechende Lösung für die Betreuungspersonen erscheinen. Diese Intervention kann jedoch zu Problemen mit Unterernährung und Dehydrierung führen, wie diverse Studien nachwiesen (Cichero, 2013; Lavizzo-Mourey, 1988; O'Keeffe, 2018; Vigano, 2011; Wright, Cotter, Hickson, & Frost, 2005)

Fortschritte erzielen

Obwohl es noch viel zu tun gibt, um die Dysphagie bei Demenzpatienten zu verstehen und zu verbessern, könnte eine regelmäßige Neubewertung der Schluckfunktion der erste Schritt sein. Wenn eine Intervention erforderlich ist, sollten rehabilitative Ansätze in Betracht gezogen werden, auch bei Vorliegen einer Demenz. Physiotherapeuten rehabilitieren Patienten mit Demenz, wenn sie Probleme beim Gehen zeigen. Ergotherapeutinnen und Ergotherapeuten rehabilitieren Patienten mit Demenz, wenn sie Schwierigkeiten mit Aktivitäten des täglichen Lebens zeigen (Ciro et al., 2014). Auch Sprachpathologen und Logopädinnen sollten in erster Linie eine Rehabilitation in Betracht ziehen und nicht bloss eine pürierte Diät verschreiben.

Eine Verbesserung der Schluckfähigkeiten, dadurch möglicherweise eine erhöhte Aufnahme und eine verbesserte Ernährung können das Risiko weiterer Komplikationen, wie z.B. Harnwegsinfektionen und Dekubitus, verringern. Die Verbesserung der Schluckfähigkeiten kann auch die Lebensqualität verbessern. Die Fähigkeit, eine größere Vielfalt an Nahrungsmitteln und Flüssigkeiten zu essen und zu trinken, kann den Genuss und die Teilnahme an Mahlzeiten und anderen sozialen Aktivitäten, die mit Nahrungsmitteln zu tun haben, erhöhen. Jeder Mensch hat diese Chance verdient.