Die Kindheit ist eine Phase einer unvergleichbaren körperlichen und kognitiven Entwicklung. Kindliche Schluckstörungen sind ein komplexes und wachsendes Behandlungsfeld. Im Unterschied zu Erwachsenen stellen Schluckstörungen bei Kindern, neben dem Risiko für pulmonale Komplikationen aufgrund von Aspirationsereignissen, eine Gefährdung für das Wachstum und die Entwicklung dar.
Das Auftreten einer pädiatrischen Dysphagie hat vielfältige und zudem häufig andere Ursachen als bei Erwachsenen. Diese umfassen lokale bzw. anatomische Ursachen (anatomische Fehlbildungen), gastroenterologische sowie neurogene Ursachen (angeborene oder erworbene Hirnschädigungen), neuromuskuläre und neurometabolische Ursachen, genetische Syndrome sowie Frühgeburtlichkeit. Kindliche Schluckstörungen zeichnen sich somit durch eine besondere Heterogenität aus und erfordern eine individuell zugeschnittene Behandlung.
Eine weitere Besonderheit liegt darin, dass pädiatrische Dysphagien in den ersten Lebensjahren in die Zeit der Essentwicklung fallen. Wichtige Bausteine sind hierfür die sensorische und (oral)motorische sowie die kognitive und soziale Entwicklung. Besonders wichtig in der Essentwicklung ist zudem die Erfahrung der Selbstregulation (Hunger- und Sättigungsgefühl).
Die Nahrungsaufnahme ist eine der ersten Aktivitäten, die ein Neugeborenes durchführt und sie erfordert eine abgestimmte Atem-Saug-Schluck-Koordination. Das Trinken an der Brust oder von der Flasche erfolgt dabei reflektorisch als Gesamtbewegungsablauf. Die Atem-Saug-Schluck-Koordination wird im Verlauf immer ausgereifter und willkürlich beeinflussbar. Die Nahrungsaufnahme des Säuglings ist im Unterschied zur späteren Nahrungsaufnahme durch frühkindliche orale Reflexe und Reaktionen bestimmt und umfasst nur eine (flüssige) Konsistenz. Der Wechsel zur oralmotorischen Kontrolle, beginnend in den ersten Lebensmonaten, stellt einen wichtigen Entwicklungsschritt dar und ist eine Voraussetzung für die Umstellung auf Breikost, die Kauentwicklung und die Umstellung auf feste Kost. In dieser Zeit beginnt somit die Entwicklung einer willkürlichen (kortikalen) Kontrolle und die primitiven Reflexe werden langsam integriert.
Je nach Alter bzw. Entwicklungsstufe steht somit eine andere funktionelle Störungsursache im Mittelpunkt. Dies erfordert für die Therapie eine spezifische Kenntnis der Entwicklungszusammenhänge und eine daran angepasste Behandlung
In der Fachliteratur gibt es eine grosse Bandbreite in den Angaben zum Vorkommen von pädiatrischen Dysphagien. Dies liegt unter anderem daran, dass der Begriff variabel definiert wird sowie an der Methodik, die zur Erfassung der Schluckstörungen eingesetzt wird. So wird eine Vielzahl von Störungen der Nahrungsaufnahme zu den pädiatrischen Dysphagien gezählt oder die Begriffe werden synonym verwendet, z.B. Fütterstörung, Ess- und Trinkstörung, Saug- und Trinkschwäche, mundmotorische Störung, myofunktionelle Störung, Refluxsymptom, Gedeihstörung, ohne dass eine genaue Differenzierung vorgenommen wird.
Die pädiatrische Dysphagie ist von den verschiedenen Formen der Fütterstörung abzugrenzen. Beide Störungsbilder können jedoch kombiniert auftreten und sind häufig nicht einfach zu unterscheiden, da sie ähnliche Symptome zeigen.
Die Schluckstörung oder Dysphagie ist eine Funktionsstörung der Nahrungsaufnahme und/oder des Speichelmanagements. Sie ist eine Störung des Schluckaktes (Beeinträchtigung der oralen, pharyngealen und/oder ösophagealen Phase), die dazu führt, dass die Sicherheit, Effizienz oder Adäquatheit der Nahrungsaufnahme oder des Speichelschluckens eingeschränkt ist.
Die Fütterstörung umfasst Nahrungsverweigerung, Verhaltensauffälligkeiten bei der Nahrungsaufnahme, inadäquate Essgewohnheiten oder selektive und/oder einseitige Nahrungspräferenzen. Hierbei ist es wichtig, unentdeckte Schmerzen (z.B. Tonsillitis, Pharyngitis oder Zahnwechsel), traumatische orale Erfahrungen (z.B. Ernährung mit einer Nasensonde, Absaugen) oder sensorische Missempfindungen (z.B. orale Hypersensitivität) auszuschliessen.
Die Autorin empfiehlt den im Schulz-Kirchner Verlag erschienen Ratgeber als Einstieg ins Thema für Eltern, Angehörige, Therapeuten oder Pflegepersonal.
Dieser Artikel wurde von der Gastautorin Susanne Bauer verfasst. Sie sammelte nach dem Studium der Sprachheilpädagogik M.A. an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) in München mehrjährige Erfahrung in der neurologischen Erwachsenenrehabilitation. Von 2012 bis 2016 war sie Leiterin der Logopädie im Rehabilitationszentrum für Kinder und Jugendliche des Universitäts-Kinderspitals Zürich in Affoltern am Albis und legte hier einen Fokus auf den Bereich der pädiatrischen Dysphagie. Seit Oktober 2016 ist sie Diplomassistentin am Departement für Sonderpädagogik an der Universität Fribourg, Abteilung Logopädie. Frau Bauer ist Vorstandsmitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Dysphagie (SGD).